Schon wieder unbekanntes Terrain. Schon wieder ins kalte Wasser geworfen. Und schon wieder heil begeistert. Zurzeit dominieren bei uns wiederkehrende Zehn(!)-U-Situationen den Alltag: Zuerst sind wir unwissend, plötzlich überrascht, dann für kurze Zeit überfordert, ein kleines bisschen unentschlossen, schliesslich handeln wir aber umsichtig, fühlen uns unfassbar unantastbar, werden überdreht übermütig, überdenken es und fühlen uns überwiegend überglücklich für die unglaublichen und unbeschreiblichen Urerlebnisse. Hört sich künstlich verkompliziert an, ist aber nicht so. Obschon ich eigentlich gerne von unserem neuen im Bett stehenden und auf uns klopfenden Weckermodell «Jaro» schreiben würde, erachte ich es als angebracht, das weit herum bekannt und geschätzte soeben erfundene Zehn-U-Modell zu erläutern. Als exemplarisches Beispiel dient der erste Vater-Sohn-Spielplatzbesuch. Hört sich nicht kompliziert an, ist aber so. Und ohne den selbsternannten Spielplatz-Professor Jaro so oder so nicht möglich.
Unwissend. Solide Schulbildung genossen, durch die Maturität gekämpft und mehr schlecht als recht das Studium abgeschlossen. Aber wo bitteschön war die fundierte Aus- geschweige denn Weiterbildung für das korrekte und in der anspruchsvollen Gesellschaft anerkannte Verhalten auf einem Spielplatz mit Nachwuchs? Fehlanzeige! Nirgends ein Bachelor of Science in Playground. Während ich problemlos ein Fünf-Kräfte-Modell im strategischen Management skizzieren kann, fehlt mir schlicht und ergreifend das Know-how, um auch nur eine Spielplatz-Kraft aufzuzählen. Wissen haben, ist das eine – Wissen anwenden, das andere. Und dann gibt es noch meine Paradedisziplin: Unwissen anwenden. So stehe ich also vor dem wunderschönen Spielplatz mitten in Thun. Der kleine Jaro voller Vorfreude in meinem Lieblingsfortbewegungsmittel für kleine Menschen. Mami kurz einen kleinen Kaffee holen. Papi mit ersten Vorboten eines kleinen Nervositätsanfalls.
Überrascht. Spielplatz betreten, easy. Kinderwagen platzieren und abstellen, kein Problem (mehr). Jaro aus dem Kinderwagen nehmen, locker. Den spiel- und laufbegeisterten Sprössling absetzen, einwandfrei geübt. Aber dann? Was nun? Wie so oft: die Kleinen zeigen den Grossen wie es geht. Professor Kind ist halt schon der beste Elternpädagoge. So watschle ich also ziemlich überrascht aber vorwiegend erleichtert dem Junior Händchen haltend hinterher. Zielorientiert ziellos. Der Kleine hat den sternförmigen Gang perfektioniert – alle fünf Sekunden peilt er ein neues Ziel an.
Überfordert. Dann also ein erstes Ziel für «betastbar» erklärt. Der Einkaufswagen eines junggebliebenen Grosi’s. Die Masche dort drauf sorgt beim Jüngling für einen – von täglich gefühlt hunderten – Wow-Effekt. Und das Ding ist darüber hinaus magnetisch. Hat ja sonst auch nichts Spannenderes auf dem Spielplatz. Nichts wie los also.
Unentschlossen. Das Händchen schon weit ausgestreckt, die Augen leuchtend und die Masche nach wie vor das unumstrittene Highlight. Aber halt! Da war ja was: Anstand beibringen! Fremder Gegenstand! Unbekannte Person! Und dann noch: Abstand halten! Maske tragen! Hände desinfizieren! Übung sofort abbrechen? Oder doch kurz normaler Menschenverstand walten lassen?
Umsichtig. Durchatmen, lieber Matthias. Wir sind auf einem Spielplatz. Das ist ein Platz zum Spielen. Der Kleine ist knapp neun Monate alt. Wer da ein Problem mit einem dreisten herzigen Maschenentwender hat, der hat kein Herz. Oder wäre auf alle Fälle nicht auf einem Spielplatz. So hat das liebe Grosi dann sogar mehr Freude an Jaro als er an der Masche. Vollständigkeitshalber eröffne ich den kurzen Smalltalk mit der bünzli-professionellen und nur zu verneinenden Frage «es stört Sie nicht, oder?» (fast wie wenn sich zwei Hündeler ohne Leine treffen). «Neeeein, sicher nicht. Ohhh jöö, so herzig!» Et voilà, Situation bravurös gemeistert.
Unfassbar unantastbar. Und schon übernehmen instinktiv die «ist ja alles gar nicht so schwierig»-Gedanken Überhand. Superdad im Anflug! Gut, eigentlich übernahm Superjaro bis dahin alles. Trotzdem ein gutes Gefühl. Erhobenen Hauptes Situationsbedingt gebückt watschle ich also zusammen mit dem Junior schön sternförmig zum sagenumwobensten Spielplatz-Ding: der Sandkasten.
Überdreht übermütig. Kaum angekommen, haben wir es gemeinsam entdeckt: Hot Wheels! Der Bub dort spielt mit Hot Wheels! Und hat eine sandige Superschanze gebaut! Jaro mit offenem Mund und einem staunenden «Ooooh», ich mit leuchtenden Äugelein. Schnelle Autos mit Flammen lassen Buben- und Vaterherzen höher schlagen. Nichts wie hin, läuft ja alles wie am Schnürchen. Während mir der coole Hot Wheels-Bub seine raffinierten Überlegungen zum innovativen Schanzenbau und der angedachten Salto-Flugbahn des Rennwagens näherbringt, ist der Kleine hin und weg vom «heissen» Gefährt. Der Bub holt kräftig aus und schmeisst das Ding schwungvoll über die Schanze. Landung auf dem Dach und Schanze mit Totalschaden. Das Dreier-Publikum spürbar enttäuscht. Jaro setzt sich nun vorsorglich einmal hin.
Überdenken. Egal wie gut es jeweils läuft, Übermut kommt selten gut. Sich lieber also wieder sammeln. Die Gedanken selber eine bessere Schanze mit Salto-Garantie zu bauen, verdrängen und sich auf das Wesentliche fokussieren. Jaro im Sand. Mit Sand in der Hand. Mit Sand im Mu… Halt! Papi-Modus wieder anlassen. Der Jüngling macht alles intuitiv hervorragend – trotzdem schaden umsichtig agierende Eltern wahrscheinlich nicht.
Überwiegend überglücklich. Gesammelt und wieder einigermassen normal denkend löst die restliche Erstbegehung des Spielplatzes in erster Linie Glückshormone aus. Ich weiss, Eigenlob stinkt. Trotzdem würde ich als sehr neutraler Beobachter dem Papi-Matthias durchaus mal ein «Chapeau» mit auf den Weg geben. Neun U’s gemeistert. Und das alles unter zehn Minuten. Wow.
Unglaubliche und unbeschreibliche Urerlebnisse. Pünktlich zum Schlussbouquet kommt auch Mama-Katja – natürlich bereits semi-professionelle Spielplatz-Meisterin – mit zwei Kafis in der Hand. Wir lachen uns an, verspüren grosses Wohlbefinden und schreiben mit diesem Erlebnis das nächste Kapitel als überglückliche Jungfamilie. Und das Schönste: die nächsten zehn U’s sind bestimmt schon in den Startlöchern!
26. März 2021 @ 6:08
Liebe Katja & lieber Matthias
Erstmal möchte ich mich herzlich für den herrlich amüsanten und den wunderbar pittoresken Blog-Beitrag bedanken. Es ist immer wieder ein Vergnügen mich in eure schreibende und malerische Kunst zu vertiefen.
Auch ich habe jüngst eine «Baby-Spielplatz-Erfahrung» gemacht, wobei ich dem einen oder anderen hier vorgestellten Szenario durchaus nun besser folgen kann.
Ich möchte an dieser Stelle noch einen Kommentar in Bezug auf die Schreibung loswerden, zumal es mir – als Fussballer – wichtig ist, dass die Lesenden keine falschen Schlüsse ziehen: Das «Zehn-U-Modell» suggeriert, dass zehnmal der Buchstabe «U» als Cliffhanger verwendet wird, was in vorliegendem Modell jedoch nicht so ist. Fälschlicherweise wir hier der Buchstabe «Ü» synonym zu «U» verwendet, was einerseits verständlich ist, zumal «Ü» ein u-Umlaut beziehungsweise ein Umlautgraphem ist und der Umlaut, zum Teil heute noch gebräuchlich, mit «UE» geschrieben wird. Nichtsdestotrotz ist der Buchstabe «Ü» ein eigener Buchstabe im lateinischen Schriftsystem. Deshalb würde ich vorschlagen den Namen des Modells beispielsweise so abzuändern: «Zehn-U/Ü-Modell».
Liebe Grüsse, Lionel <3
26. März 2021 @ 7:57
Lieber Lionel
Schön, wieder einmal von dir zu lesen! Und natürlich höchst erfreulich, konnten wir dich textlich und malerisch vergnügen. Aus verlässlicher Quelle haben wir erfahren, dass dein letzter Spielplatzbesuch ein Volltreffer war. ⚽️🧸
Da du ein technisch hochversierter Fussballer bist, verstehen wir deine U/Ü-Kritik natürlich sehr gut. Wir wollen nicht, dass du, lieber Lionel, falsche Sch(l)üsse ziehst! 🏟 Um es in Anlehnung eines ehemaligen Berufskollegen von dir auszudrücken: U (Mailand) oder Ü (Madrid), Hauptsache eine Zahl (Italien) 🤭. Wir freuen uns auf weitere glanzvolle Dribblings in den Kommentaren!