Erst haben wir es verdrängt. Dann wollten wir es nicht wahrhaben. Und nun trifft es uns tagtäglich mit voller Wucht. Unser Jüngling beginnt sein eigenes Leben zu leben. Gut, er tat das grundsätzlich schon von Anfang an aber dort war er von Mami (und birebitzeli von mir) abhängig – und diese Abhängigkeit hat er stimmgewaltig und ausdauernd zur Schau geschrien gestellt. Keine Angst, er kann das nach wie vor sehr gut. Aktuell ist übrigens die äusserst unkoordinierte Schnee(b)engel-Zappel-Urschrei-Taktik gerade voll im Trend. Nun schwingt aber im Vergleich zu damals ein grosses Stück Unabhängigkeit mit. Nicht nur beim «Töipele», sondern praktisch überall. Vehemente Bedürfnisäusserungen, Trottinett rasen fahren oder Spielplatzaktivitäten aller Art. Souveräne Handlungen ohne mit uns je über eine Unabhängigkeitserklärung diskutiert zu haben. Loslassen, heisst es so schön. Vertrauen haben, heisst es noch schöner. Selbstständige Entwicklung, heisst es am schönsten. Ja, mhm und genau sagen wir! Aber auch hier gilt: einfacher gesagt, als getan.
Flieg, Vögelchen, flieg! Das zwitschern wahrscheinlich die meisten Vogeleltern ihren Jungen beim Verlassen des Nestes zu. Irgendwie komisch, wenn man zu den Nesthockern gehört und das Nest dann fliegend verlässt. Egal, anderes Thema. Bei uns ist es eben dann ein los, Jaro, los! Und wir schwanken Mal für Mal zwischen Erleichterung und Bange. Juhui: immer wieder neue Schritte in die Selbstständigkeit – Iiih: eine Welt voller Gefahren. Ob man will oder nicht, die elterliche Fürsorge nimmt schnell Überhand. Aber kein, gemäss Duden «aktives Bemühen um jemanden, der dessen bedarf» hilft, wenn der Junior mit dem Trotti ein kleines Steinchen am Boden übersieht. Oder beim freudigen Spurt unglücklich stolpert. Oder die gleichen fussballerischen (Un-)Fähigkeiten wie der Papi hat, wo der Ball der hartnäckigste Gegenspieler ist. Es ist ein steiniger Weg in die Selbstständigkeit. Für ihn und für uns. Übrigens bleiben Jung- und Altvögel später unter anderem mit Lock- und Alarmrufen in Kontakt. Melden die Altvögel eine Gefahr, verstecken sich die Jungvögel sofort oder erstarren regungslos an Ort. Hätten wir das gewusst, wäre bei uns nicht «Stopp» das akustische Gefahrensymbol.
Es gibt aber auch Momente, wo wir Eltern den Drang verspüren, die Schritte in die Selbstständigkeit ein bisschen zu verlangsamen. Jaro wird ja noch eine Weile in unserem Nest bleiben. Der erste richtige Jungfernflug erfolgt wohl erst beim Auszug. Deshalb deponieren wir ihm im Gegensatz zu den Fischadler-Eltern Speis und Trank nicht einige Meter vor dem Haus, sondern bringen es wie gewohnt an den Tisch und essen gemeinsam. Wenn der Jüngling aber eine regelrechte Pechsträhne hat, wünschten wir uns auch schon die Baby-Zeit zurück. So geschehen vor ein paar Wochen. In einer Nacht wurde er sage und schreibe 35 (fünfunddreissig) Mal von einer Mücke gestochen. Tags darauf lief – bei verständlicherweise nicht bester Laune – zusätzlich alles schief. Wie schön wäre es gewesen, ihn nach dem ersten Stolperstein aufzunehmen, in die Babytrage zu nehmen und gut zu redend zu «hämpfele». Wollte er aber nicht. Der Selbstständigkeit sei Dank. Und so nahm das Unheil seinen Lauf. Zuerst hatte er kein Glück. Und dann kam noch Pech dazu. Erst am Abend konnten wir den Junior wieder so richtig «zu uns ins Nest nehmen» und den Tag der juckenden Mückenstichen, aufgeschürften Knien und eingeklemmten Daumen gemächlich ausklingen lassen. Selbstständigkeit hat auch seine MTücken.
So sollte es wahrscheinlich auch sein. Der Kleine entdeckt, versucht und handelt selbstständig wir schauen Voraus, versuchen Gefahren aus dem Weg zu gehen und reagieren möglichst schnell und korrekt. Der Spagat zwischen übervorsichtig und fahrlässig ist auf alle Fälle nicht immer einfach. Vielleicht sind die Vögel gar keine schlechten Vorbilder. Die fliegen zwar nicht mit ihren Jungen mit, sind aber da, wenn es sie braucht. Aber Achtung, nicht alle Vögel sind gute Beispiele. Trottellummen locken ihre Jungvögel zum Beispiel vom Nest weit oben auf Felsen ins Wasser – und die springen dann tatsächlich bis zu 60 Metern hinunter. Daher vielleicht dieser Name? Anyway, das mit der Selbstständigkeit wird uns alle noch lange begleiten und fordern. Unser Gedankensprung letztens in die Schulzeit von Jaro liess uns auch kurz in Schnappatmung verfallen. Aber hey, es dauert noch ein wenig. Bis dahin können wir uns ja durchaus an der Selbständigkeit von Jaro erfreuen und uns im «richtigen» Verhalten weiterentwickeln. Auch die Trottellummen führen ihre Jungvögel auf das offene Meer, wo sie bis zur Selbstständigkeit gefüttert und betreut werden.