28. Juni 1997. Für viele wahrscheinlich einfach nur ein Datum. Las Vegas, legendärer Boxkampf, Mike Tyson gegen Evander Holyfield. Den Sportenthusiasten sollte nun etwas klingeln! Der liebe Mr. Holyfield hatte nämlich ziemlich viel um die Ohren. Oder besser gesagt, nach dem Kampf ein Stück weniger. Der Mike knabberte dem Evander also wahrhaftig ein Körperteil weg. Wahnsinn! Und weshalb, um Himmels willen, komme ich auf diesen abstrusen Sportmoment? Wir haben tatsächlich einen kleinen Holyfield in unserer Familie – jedenfalls hatte er ein ähnliches Erlebnis. Also ohne Boxkampf, ohne böswilliges Gegenüber und zum guten Glück immer noch mit ganzen Ohren.
Ich habe keine besonders gute Beobachtungsgabe, was kleinere bis gravierende Veränderungen im näheren familiären Umfeld betrifft – ganz der Mann eben. Stichwort Coiffeure-Besuch der Frau. Da ist kein Feedback als Anerkennung zur neuen Haarpracht nicht immer die beste Lösung. Beim Jüngling ist das irgendwie anders. Da fällt mir jedes krumme Haar auf. Was da aber vor ein paar Wochen an der linken Wange ersichtlich war, das schleckte keine Geiss weg. Die Veränderung war einerseits aufdringlich offensichtlich und andererseits erschreckend unglaubwürdig. Au Backe! Junior wurde an der Backe gebissen. Ich reagierte wahrscheinlich ähnlich wie damals der Holyfield und guckte erstmal ziemlich blöd aus der Wäsche. Man rechnet ja grundsätzlich mit vielem nach einem Kita-Tag – aber eine beängstigende Backen-Bisswunde gehört nun definitiv dazu. Deshalb auch hier: Wahnsinn! Anfängliche Anzeichen von Empörung wichen dann aber schnell aufkommenden Lachanfällen. Das musste auch eine Szene gewesen sein. Mindestens ein historischer Kita-Moment. (Leider?) nicht für die Ewigkeit festgehalten. Ich wage mich an eine Rekonstruktion der Ereignisse.
An alle nach wie vor Empörten («Skandal-Kita»! «Rabeneltern»!): Bitte ruhig Blut bewahren. Erstens waren die Kita-Betreuerinnen allesamt aus dem Häuschen und entschuldigten sich aufrichtig für das nicht Intervenieren während einem Bruchteil einer Sekunde (und wir so: Meine Güte, es sind Kinder – ihr könnt da absolut nichts dafür!). 2. Das Ganze war, trotz der hier überspitzten Schilderung, halb so wild und wir haben die Wunde pflichtbewusst desinfiziert und beobachtet. Die Google-Suche nach Menschenbissen liefert übrigens erschreckend viele Ergebnisse, anderer Schauplatz aber. Mit reinen Bissen reinem Gewissen wage ich mich nun also, den Bisshergang zu rekonstruieren. Am Tag des Bisses können wir uns an keine ungewöhnlichen Begebenheiten erinnern. Mami brachte Jaro in die Kinder-WG, die Verabschiedung war gewohnt intensiv mit ein paar verdrückten Tränchen und kein WG-Gspändli fletschte mit den Zähnen – jedenfalls nicht so, dass es Mami aufgefallen wäre. Beim Abholen waren dann vor allem Jaros Backe und das Aufgelöstsein der Betreuerinnen auf- und augenfällige. Kein Geständnis und keine weiteren Beweise. Wir gehen Folge dessen davon aus, dass es kein minutiös geplanter Biss war, geschweige denn Böswilligkeit dahintersteckte.
Die Beweislage ist also dünn. Wir müssen uns auf die Darstellung(en) der Betreuerinnen stützen. Und scheinbar gibt es neben dem Bankgeheimnis auch ein Kita-Geheimnis. Ernsthaft! Alle personenbezogenen Tatsachen, welche der Kita im Rahmen ihrer Tätigkeiten anvertraut werden, gelangen nicht an die Öffentlichkeit. Heisst für uns, keine Angaben zur Beisserin oder zum Beisser. Das finden wir auch gut so. Nur so haben wir für die Rekonstruktion genügend Spielraum für unsere irrwitzige Fantasie. Wenn wir schon bei den Geheimnissen sind: Dass unser Jüngling sehr kontaktfreudig und alles andere als ein frommes Lamm (mehr) ist, ist längst kein Geheimnis mehr. Bei einem Kita-Zeugnis würde man sein Verhalten wahrscheinlich wie folgt umschreiben: Jaro ist ausgiebig kommunikativ und gegenüber anderen sehr offen. Er ist ein ausgesprochen fröhlicher Zeitgenosse, überaus aktiv und an guten Tagen äusserst liebevoll. Von seinen Ideen lässt er sich kaum abbringen und kann vehement auf seiner Meinung beharren. Bei gewissen Ereignissen oder Tätigkeiten ist eine Tendenz zu Sturheit erkennbar. Trotz seiner temperamentvollen Art wird er von seinen Kolleginnen und Kollegen als Kita-Gschpändli sehr geschätzt. Gegenüber den Betreuerinnen verhält er sich abseits des Wickeltisches stets freundlich und korrekt.
Wir gehen also davon aus, dass unser Holyfield den Kita-Tyson (oder Tysonette?) auf irgendeine Art und Weise aufgezogen hat. Und das wissen wir alle bestens: an gewissen Tagen braucht es einfach nicht viel! Stellt euch mal vor, ihr hättet in der Nacht kein Auge zugedrückt, kräftige Zahnschmerzen, wegen Bauchkrämpfen keinen Appetit und wärt gegen den eigenen Wunsch einen ganzen Tag ohne eure Liebsten, ausserdem schon mehrmals über eine Schwelle gestolpert und dann ist da noch der Holyfield! Seit dem frühen Morgen kommt er unermüdlich und mit ohrenbetäubendem Geschrei auf euch zu, reisst euch ständig am schönsten Shirt und stiehlt euch die ganze Zeit eure Lieblingsspielsachen. Dann die verhängnisvolle zehnte Attacke. Holyfield rennt mit eurem geliebten Spielzeug in der Hand wedelnd und viel zu lautem Gekreische in horrendem Tempo auf euch zu. Seine andere Hand bereits griffbereit für den zehnten Zupfer am Lieblings-Shirt. Zack! Jetzt haut es euch den Nuggi aber so richtig raus. Ohne Nuggi seht ihr nur noch eine Lösung. Im Handgemenge visiert ihr die Backe. Da ihr die Hände für die Verteidigung braucht, gibt es schlicht und einfach nur eine Alternative. Ein gezielter Biss. Und schon wird man zur Beisserin oder zum Beisser. Wie gesagt, es ist schnell passiert. Und so, oder so ähnlich wird es sich auch abgespielt haben. Das sagen wir mit absoluter Unsicherheit.
Rekonstruktion abgeschlossen. Wir danken dem oder der Kita-Tyson(-ette) für die Lacher und nehmen es ihm oder ihr alles andere als übel. Mitunter wegen solchen Erlebnissen lieben wir das Elternsein. Und vollständigkeitshalber: wir sind absolut angetan von unserer Kita und können sie nur weiterempfehlen. Die haben dort alle den notwendigen Biss!